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Fichtes Wissenschaftslehre wird nach wie vor oft auf die Stichworte «Ich », «Grundsatz » und «Systemphilosophie» reduziert und damit einer Richtung zugerechnet, die aus heutiger Sicht ihren Ansprüchen nach als überrissen und ihren Resultaten nach als überholt gilt. Durch die intensivierte Fichte-Forschung der letzten beiden Jahrzehnte wurde diese Einschätzung zwar insofern in Frage gestellt, als sie auf historisch bedeutende und systematisch beachtenswerte Leistungen Fichtes aufmerksam gemacht hat. Dennoch hat sich wenig daran geändert, dass der eigentliche Ansatz der Wissenschaftslehre – die Fundierung der Philosophie auf der Basis des Begriffs des Ich – als Paradigma eingestuft wird, das als solches keiner Rechtfertigung fähig ist und das als systematisch obsolet betrachtet wird. Demgegenüber wird in der vorliegenden Studie gezeigt, dass Fichtes Systemgrundlage nicht auf einem unhinterfragten Paradigma beruht, sondern gezielt als Antwort auf Einwände gegen die Transzendentalphilosophie konzipiert wurde. Das tatsächliche systematische Potenzial und die argumentative Stärke der Wissenschaftslehre zeigen sich, wenn sie ausgehend von jenen Problemen verstanden wird, deren Lösung sie sich zur Aufgabe gemacht hat. Dabei wird deutlich, dass es Fichte um eine Verteidigung der Möglichkeit der Transzendentalphilosophie gegen den Skeptizismus geht: Die Einwände der Skeptiker machen ihn auf schwerwiegende Faktizitäts- und Anwendungsprobleme im Zusammenhang mit der zentralen kantischen Frage nach der objektiven Gültigkeit von Erkenntnis aufmerksam. Genau derartige Schwierigkeiten will Fichte, wie die Analyse der Argumentation zeigt, mit seinen Grundbegriffen der Tathandlung bzw. der Selbstsetzung und der intellektuellen Anschauung ausräumen.
Fichte vollzieht mit seinem neuen Ansatz eine systematisch und philosophiegeschichtlich entscheidende Wendung, indem er Tätigkeit als dasjenige in Ansatz bringt, was Subjektivität konstituiert und was die Basis aller Intentionalität ausmacht. Er bringt eine radikal neue ontologische Auffassung von Subjektivität als irreduzibler Tätigkeit ins Spiel, welche die Anforderungen erfüllen kann, die eine tragfähige, gegen die skeptischen Einwände resistente Basis der Transzendentalphilosophie erfüllen muss. Mit seinem Verständnis von Subjektivität als tätigkeitsbasierter Intentionalität gelangt Fichte zu einem systematischen Ansatz, der – trotz aller nicht zu unterschlagenden Schwierigkeiten im Einzelnen – insgesamt eine ernstzunehmende Antwort auf die skeptische Herausforderung der Transzendentalphilosophie darstellt. Die Wissenschaftslehre Fichtes erweist sich daher als argumentativ beachtenswerter Theorieansatz mit einigem Problemlösungspotenzial. Selbst wenn Fichtes Letztbegründungsansprüche relativiert werden müssen, kann die Wissenschaftslehre immer noch als eine erste umfassende Theorie intentionaler Phänomene – Erkennen, Handeln, Personalität, Interpersonalität – gelten und bestehen.