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Die Jerusalemer Stadtquelle ist in Tradition und Gegenwart unter dem Namen Siloah bekannt, auch wenn ihr Wasser der Gihon-Quelle entstammt. Eine unterirdische Leitung, der sogenannte Hiskia-Tunnel, führt das Wasser der Quelle bis auf den heutigen Tag unter dem Südost-Hügel hindurch. Für fast zwei Jahrtausende galt diese westliche Ausmündung des Tunnels als die Siloah-Quelle oder der Siloah Jerusalems. Die eigentliche Quelle, der Gihon, geriet hingegen für über ein Jahrtausend in Vergessenheit. Heute zählen die Wassersysteme des Südost-Hügels zu den archäologischen Stätten, die weltweit am intensivsten erforscht wurden. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den kulturellen Erinnerungen zum Siloah. Sie entwickelt auf der Grundlage einer vielfältigen Auswahl unterschiedlicher Text- und Bildmedien eine Kulturgeschichte der Jerusalemer Stadtquelle von ihren Anfängen bis in die Gegenwart. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei einerseits der Pluralität und Variabilität der Erinnerungskulturen, andererseits dem Zusammenhang mit den materiellen Strukturen und Architekturen. Die Arbeit verbindet hierzu ein historisch-kritisches Quellenstudium mit einem erinnerungskulturellen Ansatz in raumsoziologischer Perspektive. In der Frühzeit Jerusalems (Kap. IV), der Mittelbronze-II-Zeit, wurden umfangreiche Anstrengungen unternommen, um das Wasser der intermittierenden Quelle für die Bevölkerung nutzbar zu machen und Feinden den Zugriff auf die Wasserressource der Stadt zu verwehren. In alttestamentlicher Zeit (Kap. V) hatte die Jerusalemer Stadtquelle eine herausgehobene kultisch-theologische Bedeutung: Sie galt als Heilssymbol und Zeichen der Gegenwart Gottes. Die Gihon-Quelle wurde mit den Strömen des Paradieses in Verbindung gebracht. Salomo soll an der Quelle zum König gesalbt worden sein. In frühjüdischer Zeit (Kap. VII) wurde an Sukkot, dem jüdischen Laubhüttenfest, ein bedeutungsvolles Wasserritual praktiziert: Dazu wurde am Siloah Wasser geschöpft, das in einer Prozession zum Tempel hinaufgebracht und dort am Altar vergossen wurde. Dies sollte unter Bezugnahme auf alttestamentliche Traditionen das erwartete endzeitliche Heil versinnbildlichen. Mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 n. Chr., der nachfolgenden Vertreibung der jüdischen Bevölkerung und der 130 n. Chr. erfolgten Umwandlung der Stadt in die römische Kolonie Aelia Capitolina kam es zu einem weitgehenden Bruch mit den alttestamentlich-frühjüdischen Traditionen. Die formative Periode der Erinnerungskulturen zum Siloah endete mit diesen Ereignissen. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels stellte auch den Verfasser des Johannesevangeliums vor die Frage einer Neubewertung der Festliturgie von Sukkot. In der Erzählung von der Heilung eines Blindgeborenen am Siloah in Joh 9 (Kap. VIII) deutet der Evangelist den Siloah christologisch: Das endzeitliche Heil, welches das Wasserritual an Sukkot mit der Libation des Quellwassers symbolisch vorausnahm, ist nach seiner Auffassung nicht mehr vom Jerusalemer Tempel und seiner Kultpraxis abhängig, sondern in Jesus bereits gegenwärtig. Die gesamte frühchristliche Auslegungs- und Kommentarliteratur (u. a. Augustinus) ist dieser Deutung von Joh 9 gefolgt. Ein historisch-topographisches Interesse am Siloah gab es in frühchristlicher Zeit nicht. In spätrömischer Zeit (Kap. IX) lag der Siloah außerhalb der südlichen Stadtummauerung Jerusalems. Um 130 n. Chr. wurde an der Ausmündung des Hiskia-Tunnels ein Nymphäum erbaut, das archäologisch als vierseitiger Portikus nachgewiesen ist. In byzantinischer Zeit (Kap. X) wurde um die Mitte des 5. Jh. n. Chr. im Süden Jerusalems eine neue Stadtmauer errichtet, die den Siloah wieder in das Stadtgebiet brachte. Etwa zeitgleich wurde am Siloah eine Kirche erbaut, die den spätrömischen Portikus teilweise integrierte und deren Altar sich unmittelbar über der Ausmündung des Hiskia-Tunnels befand. Beim Persereinfall von 614 n. Chr. wurde diese Kirche offenbar beschädigt. Infolge des Rückgangs der christlichen Bevölkerung kam sie außer Gebrauch und verfiel. Die islamische Traditionsbildung (Kap. XI) zum Siloah setzte ein, als die dortige Kirche bereits im Verfall begriffen war. Schon in umayyadischer Zeit (frühes 8. Jh. n. Chr.) wurde der Siloah von muslimischen Pilgern besucht. Im Islam galt der Siloah in Anlehnung an alte jüdische Tempeltraditionen als eine der Quellen des Paradieses. Erst mit den Kreuzfahrern (Kap. XII) wurde der Siloah zum christlichen Erinnerungsort der johanneischen Blindenheilung. In mamlūkischer Zeit (Kap. XIV) wurde um 1300 n. Chr. die Gihon-Quelle wiederentdeckt. Sie erhielt den Namen Marienquelle, da man sich erzählte, dass Maria hier die Windeln ihres Sohnes Jesu gewaschen habe. Die Legende vom Windelwaschen ist aus Motiven der apokryphen Kindheitsevangelien und islamischen Lokaltraditionen zur Wiege Jesu (Mahd ʿĪsā) und der Kammer der Maria (Miḥrāb Maryam) hervorgegangen. Aus der osmanischen Zeit (Kap. XV) ist eine Vielzahl von christlichen Pilgerberichten erhalten, die den Siloah durchgängig als Ort der johanneischen Blindenheilung verzeichnen. Ein Besuch am Siloah gehörte in dieser Zeit zum festen Programm einer jeden christlichen Pilgerfahrt nach Jerusalem. In den literarischen Verarbeitungen westlicher Schriftsteller (Kap. XV.3) wird der Siloah unter dem Aspekt seiner Urtümlichkeit und abgeschiedenen Lage behandelt.